Kaiser-Wilhelm-Strasse 6

Die Kaiser-Wilhelm-Straße 6 (heute Rosa-Luxemburg-Straße 6) liegt in der Rostocker Steintor-Vorstadt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das südlich der Stadtmauer gelegene Areal nahezu unbebaut. Es gab die Reiferbahn und einige Ackerbürgerhäuser, welche an der späteren Friedrich-Franz-, Augusten- und Paulstraße lagen.  Ab 1860 wurden Grundstücke an die Städter zur Errichtung von Wohnhäusern verkauft. Die Straßenverläufe nördlich der St.-Georg-Straße folgen z.T. bis heute den damaligen Feldwegen.
Die Eröffnung des Lloyd-Bahnhofs, des heutigen Hauptbahnhofs, im Jahr 1886 wurde zur Initialzündung für die Bebauung der Steintor-Vorstadt südlich der St.-Georg-Straße. Im Jahr 1885 waren die Kaiser-Wilhelm-Straße und die Bismarckstraße (heute Gerhard-Hauptmann-Straße) angelegt worden, die den Bahnhof mit der inneren Stadt verbanden. Im Juni 1887 wurde der Oberbaurat Reinhard Baumeister aus Karlsruhe vom Rostocker Rat mit der Planung für das etwa dreieckige Gebiet zwischen St.-Georg-Straße, Bahnhof und Schwaaner Landstraße beauftragt. Im August 1887 legte Baumeister seine Planungen vor, die teilweise Vorarbeiten u.a. von Stadtbaumeister Studemund aufgriffen. Im September genehmigten Rat und Repräsentirende Bürgerschaft den Bebauungsplan.

Blick zum Steintor, ca. 1865, Fotografie von Friedrich Miede

Ab 1888 wurde mit der Bebauung begonnen, zunächst an der Bismarckstraße. Im Jahr 1891 findet sich die Kaiser-Wilhelm-Straße mit der Hausnummer 1 erstmalig im Adressbuch. Die Baugrundstücke sollten von der Kämmerei meistbietend versteigert werden. Es gibt Vermutungen, dass es in dem Bieterverfahren Absprachen zwischen den Interessenten gegeben habe, da es oft nur einen Bieter je Grundstück gab. (vgl. Jan-Peter Schulze: Die Entwicklung der Steintor-Vorstadt um 1900. In: Pelc, Ortwin (Hrsg.): 777 Jahre Rostock. Neue Beiträge zur Stadtgeschichte. Rostock 1995) Das Verkaufsprocedere hatte tatsächlich nur wenig mit einer Versteigerung zu tun, da die Kämmerei zum Grundstücksverkauf bereit war, sobald 200 Mark je Quadratrute geboten wurden. Die Rute ist eine alte Längenmaßeinheit, die regional unterschiedlich war. Die Sondershausener Feldrute war ca. vier Meter kurz, die Alte Oldenburger Rute fast sechs Meter lang. Bei den Rostocker Grundstücksgeschäften wurde entweder die Rostocker Waldrute (4,60 m) oder die Mecklenburgische Waldrute (4,66 m) verwendet, woraus sich eine Quadratrute von 21,19 oder 21,68 m² ergibt. Die Grundstücke für die Kaiser-Wilhelm-Straße 3-10 wurden 1894 gebildet. Initiator war Maurermeister Carl Heinig, der sich mit Schreiben vom 29.03.1894 an den Rat wandte: „Hiermit erlaube ich mir die ganz ergebene Bitte vorzutragen, E.E. Rath wolle gefälligst veranlassen, daß diejenigen Bauplätze an der Kaiser-Wilhelm-Straße welche in der Verlängerung der Graf Schack Straße liegen, also über die jetzige Bleiche führen, parzelliert werden, da ich beabsichtige daselbst Plätze zu kaufen und elegante Villen darauf zu erbauen. Indem ich hoffe keine Fehlbitte gethan zu haben
zeichne
Hochachtend
Ergebenst
C. Heinig“
Am 06.06.1894 wurde dem Rat von der Kämmerei mitgeteilt, dass „wir durch den Landesrevisor Saniter den den südlichen Theil der städtischen Oberbleiche einschließenden Block auf Grund des Stadterweiterungsplanes von 1888 in geeignete Bauplätze [haben] eintheilen lassen.“ Weiterhin  teilte die Kämmerei mit, dass Maurermeister Heinig jedoch kaum Interesse zeige. Für zwei Grundstücke lagen bereits Gebote anderer Interessenten vor. So bot der Reeder Paul Gramp(p) für den Bauplatz 1457 VII (Kaiser-Wilhelm-Str. 8 ) 200 Mark je Quadratrute.
Am 02.07.1894 befasste sich die Repräsentirende Bürgerschaft mit dem Verkauf der Grundstücke. „Nach dem Bericht des Herrn Berringer wird die Vorlage vom 11. Juni d. J. betreff. Eintheilung des den südlichenTheil der städtischen Oberbleiche einschließenden Blockes in Bauplätze genehmigt, E. E. Rath jedoch ersucht, außer den Plätzen Nr. 1457 VIII, V, IX auch die Plätze 1457 I, II, III, IV zu verkaufen, da auch für diese bereits Kaufliebhaber vorhanden sind.“ Bei Herrn Berringer handelt es sich um den Maurermeister Ludwig Berringer, Mitglied der Bürgerschaft. Nicht erwähnt im Text ist das Grundstück 1457 VII, für das sich der Reeder Gramp(p) interessiert hatte. Es ist anzunehmen, dass dieses sowie die Grundstücke V, VIII und IX zu diesem Zeitpunkt bereits veräußert waren. Nach Aktenlage war dies bei Nr. VIII allerdings nicht der Fall. Das Grundstück der Kaiser-Wilhelm-Straße 6 hatte die Nummer 1457 V.

Der Bauschein für den Neubau eines Wohnhauses war am 09.04.1895 ausgestellt worden, die Gebrauchsabnahme erfolgte am 24.03.1896. Ab 1897 findet sich der Bauherr, der Rentier C.F. Staude als Eigentümer und Bewohner der Kaiser-Wilhelm-Straße 6 auch im Rostocker Adressbuch. Zuvor hatte Herr Staude zwei Jahre in der St.-Georg-Str. 20 gewohnt. Errichtet wurde die Villa von Maurermeister Carl Heinig, der im Patriotischen Weg 73-75 eine Granitschleiferei, Steinmetzwerkstatt und  Holzbearbeitungsfabrik betrieb. Carl Heinig hat in der näheren Umgebung ein weiteres Haus errichtet, die Kaiser-Wilhelm-Str. 29, heute Wilhelm-Külz-Platz 4. (Im Jahr 1899 begann Carl Bremer, der spätere Gründer und Inhaber der Firma Draht-Bremer seine kaufmännische Lehre bei Carl Heinig.) Das Haus hat zwei Etagen und ist unterkellert. Im Keller waren z.B. Spüle und Waschküche untergebracht. Auch das „Mädchen“ hatte hier ihr Zimmer. Im Erdgeschoss befanden sich u.a. Salon, Speise-Zimmer, Schrank-Zimmer und Zimmer des Herrn. Im Obergeschoss gab es z.B. zwei Schlafzimmer und das Bad. Im Vergleich zu einigen anderen, z.T. auch noch erhaltenen Häusern aus dieser Zeit in der Kaiser-Wilhelm-/Rosa-Luxemburg-Straße ist die äußere Form der Kaiser-Wilhelm-Str. 6 doch als zurückhaltend zu bewerten, weil auf Türme und Türmchen und sonstigen Zierrat  weitgehend verzichtet wurde.

Carl Friedrich Staude, Jahrgang 1831, aus dem mecklenburgischen Goldberg stammend, bewohnte das Haus mit seiner deutlich jüngeren Frau Clara (*1854), den Kindern Clara und Walter sowie einer Köchin und einem Hausmädchen.

Kaiser-Wilhelm-Straße mit dem Bahnhof im Hintergrund, um 1900, im Vordergrund kreuzt die Graf-Schack-Straße, links das erste Haus ist die Nummer 3, rechts steht die Nummer 39

Das Haus links, die Kaiser-Wilhelm-Straße 3, dürfte den etwas älteren Rostockern noch als Haus der Pioniere bekannt sein. Die Nummer 39 rechts im Bild existiert nicht mehr, die Straße endet jetzt mit der Nummer 38. Auf den Grundstücken der früheren Nummern 38 und 39, beide Gebäude wurden im 2. Weltkrieg zerstört, steht seit einigen Jahren ein Bankgebäude.

Postkarte von ca. 1900. Rechts ist im Anschnitt die Nummer 6 zu sehen.

 

Auf obiger Ansicht der Kaiser-Wilhelm-Straße ist ganz rechts ein Stück der Nummer 10 und ein großer Stapel Ziegelsteine zu sehen. Gut zu erkennen sind auch die Erker der Nummern 9-7. Dann wird es schwierig, da Bäume und Baugerüste den Blick verstellen. Es ist also anzunehmen, dass die Aufnahme in der Bauphase der Kaiser-Wilhelm-Straße 6 entstand, zwischen November 1895 und März 1896. Links auf der Ansichtskarte ist noch ein Teil  Kaiser-Wilhelm-Str. 32 zu sehen, heute Hostel, zu DDR-Zeiten Kammer der Technik. Ende der 1920er/ Anfang der 1930er Jahre ging Margarete Kempowski oft in das Haus, um ihre Kinder Ulla und Robert in den Kindergarten von Anna Marie Voß zu bringen.

Kaiser-Wilhelm-Straße 32. Postkartenausschnitt, spätestens von 1910

Ab 1914 gehörte dann die Kaiser-Wilhelm-Straße 6 dem Rittergutsbesitzer und Landschaftsrat Albert Westphal. Zum Ende bzw. kurz nach dem 1. Weltkrieg wurde Hauptmann z.D. Paul Freybe Eigentümer des Hauses. Freybe stammte aus Lötzen in Ostpreußen, heute Gizycko
in Polen. Er war seit 1910, damals als Leutnant, Mitglied in Mecklenburgischen Yachtklub Rostock, was angesichts der anderen honorigen Mitglieder des Clubs auf einen gewissen Wohlstand schließen lässt.
Im Rostocker Anzeiger fand sich in der Ausgabe des 24.11.1914 folgende Anzeige:
„Oberleutnant Freybe, Führer der 3. Komp., I.-R. 147, z. Zt. in Russ.-Polen bittet bei Absendung von Weihnachts-Liebesgaben seiner Kompagnie zu gedenken. Vor allem Rauchsachen, Briefpapier, Schokolade, Husten-Bonbons, Scheren, einf. Brieftaschen, Pantoffeln usw.   Adresse: 3. Komp., Infanterie-Regiment 147, 20. Armeekorps, 37. Infanterie-Division, I. Bataillon“
Im Jahr 1920 war Paul Freybe Major, allerdings a.D. und betrieb in der Breiten Straße 26/27 eine General-Agentur der „Vaterländischen“ und der „Rhenania“. Ab ca.1926 gab Freybe seinen Vertreterposten auf und wurde Teilhaber der Firma Freybe & Co., Spezialgeschäft für technische Bedarfsartikel in der Strandstraße 88. Diese Firma existierte bis ca. 1931.

Annonce aus dem Mecklenburgischen Monatsheften, November 1926

Spätestens ab September 1927 war der Rechtsanwalt und Notar Dr. Otto Düwel Eigentümer der Villa. Auch Düwel gehörte einem Yachtclub an, nämlich ab 1928 dem Rostocker Yacht-Club.
Sehr wahrscheinlich hat Düwel in Rostock einige Jahre Jura studiert. Jedenfalls findet sich in den Studierendenverzeichnissen ab dem Sommersemester 1886 bis zum Sommersemester 1890 der Name Otto Düwel. Auch wenn der Name Düwel um 1900 sehr häufig in Rostock vorkam, so ist die Wahrscheinlichkeit doch sehr groß, dass es sich bei dem Studenten um den späteren Eigentümer der Villa handelt. Otto Düwel stammte demnach aus Wilsen, einer Ortschaft ganz in der Nähe Rostocks. Wie viele andere Studenten auch, wechselte er in seinen Rostocker Jahren häufig das Zimmer/die Wohnung. Im Sommersemester 1886 wohnte Düwel bei der Steueraufseher-Witwe Suckow, Heiligergeisthof 38, im darauffolgenden Wintersemester beim Schlosser C.L. Jardin, Altschmiedestraße 27, im Sommersemester 1888 war er an der Universität nicht eingetragen. Ab 1889 findet sich dann der Name Otto Düwel im Adressbuch, was wohl bedeutet, dass er nun eine eigene Wohnung hatte: 1989 Burgwall 20, 1890 Bußebart 12, 1891 St. Georgstr. 73. 1890 findet sich Düwel letztmalig noch im Studierendenverzeichnis, in Erwartung des akademischen Grades.
Zurück zur Kaiser-Wilhelm-Straße. Mit dem neuen Eigentümer hielt der automobile Fortschritt Einzug. Im Keller wurde 1927 eine Garage eingebaut. Der beauftragte Unternehmer war der Ingenieur Paul Thomas, Koßfelderstraße 6, Eisenbeton-, Hoch- und Tiefbau. Für die Garage wurde im Keller das Zimmer des Mädchens geopfert. Das Mädchen durfte ab sofort das Zimmer des Herrn im Erdgeschoss nutzen.

In die Mitte des Garagenfußbodens wurde ein Ablauf eingelassen, der als Benzinfänger wahrscheinlich die Funktion hatte, über- oder ausgelaufenes Benzin aufzufangen und aus Brandschutzgründen nach außen zu leiten.

Luftaufnahme, 1944. Bildrechte: Foto Marburg

Das Haus blieb von den Bombardements des 2. Weltkriegs weitgehend verschont. Allerdings gab es in der Nachbarschaft einige Treffer, wie auf dem Luftbildausschnitt, aufgenommen im September oder Oktober 1944, zu erkennen ist. Zur besseren Orientierung ist die Nummer 3 angegeben. Links davon, auf der anderen Straßenseite die Ruine der Nummer 2; dort hat einmal der Reeder Otto Zelck gewohnt, das Grundstück ist noch heute unbebaut. Die Grundstücke der Hausnummern 10, 34, 38 und 39 sind bereits eigeebnet.

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